Vom Organisieren zum Gewinnen: Strategien für eine sozialistische Mitgliederpartei

Strategiepapier des Bundessprecher:innenrats der Linksjugend [’solid] zur Erneuerung der LINKEN

Das Ergebnis der Bundestagswahl ist weder Zufall oder reines Produkt der ungünstigen Umstände noch das Resultat handwerklicher Fehler im Wahlkampf, sondern Ausdruck einer generellen Krise der LINKEN, die sich nicht nur in schlechten Wahlergebnissen niederspiegelt. Die Agenda 2010 und die Ära Schröder genererell sind zu weit weg, um noch die gemeinsame Klammer von der LINKEN als anti-neoliberale Sammlungsbewegung zu bilden, und leider erfüllt die LINKE selbst ihren eigenen Anspruch nicht, als sozialistische Partei eine eigenständige Akteurin und mehr als das soziale Gewissen von SPD und Grünen zu sein. Viele Gründe für diese Schwäche zeigten sich kürzlich im Wahlkampf der letzten Bundestagswahl, andere hingegen ziehen sich seit Jahren durch diese Partei. Kern des Problems ist eine grundsätzliche Ungeklärtheit vieler Fragen: Was bedeutet es eine sozialistische Partei zu sein? Und was heißt das neben dem inhaltlichen Anspruch für die Organisation unseres eigenen Parteilebens?

Für uns ist klar: Als Sozialist:innen ist die Partei kein Selbstzweck und nicht einfach nur ein parlamentarischer Player, sondern ein Mittel für die Selbstbefreiung der Unterdrückten. Eine Abgrenzung sozialistischer Politik bspw. zu christlicher Charity-Politik ist von außen kaum erkennbar, und auch intern gibt es wohl kaum Einigkeit. Bei der Bundestagswahl sind uns nur 56% unserer Wähler:innen geblieben, der Rest hat sich vor allem der SPD und den Grünen zugewendet oder ist gar nicht mehr Wählen gegangen. Strategiediskussionen nur an Demoskopie auszurichten, ist keine gute Idee, aber eine Tatsache zeigt die Bundestagswahl doch eindeutig: In Zeiten von Polarisierungen, bei denen die LINKE nicht Teil ist, fallen wir auf unsere Stammwähler:innenschaft von überzeugten Linken zurück, die aber zu klein ist, um uns alleine parlamentarisch am Leben zu halten – was besonders fatal ist, da wir außerhalb des Parlaments gerade in vielen Teilen des Landes kaum Wirkung entfalten. Diese fehlenden Bindung größerer Gruppen von Menschen an die LINKE ist unser entscheidendes Problem, und das wird sich auch nicht verbessern, wenn nicht klar wird, dass wir nicht einfach nur eine bessere SPD sind. Strategien, das „soziale Gewissen“ von irgendwem sein, funktionieren nicht, denn so bindet sich unser Erfolg an den Misserfolg von SPD und Grünen, und wenn diese mal wirklich den Mindestlohn um wenige Euro erhöhen, haben wir nichts mehr zu sagen. Um das zu ändern, wird eine „Rückbesinnung“ auf eine Politik von vor 15 Jahren uns nicht helfen. Ohne eine grundlegende strategische, programmatische und kulturelle Erneuerung werden wir nicht einmal ein erfolgreicher Wahlverein werden, aber erst Recht keine Kraft, die wirklich Gesellschaft verändert.

Strategische Erneuerung

Hinter der aktuellen Krise der LINKEN verbirgt sich ein Mangel an gemeinsamer Strategie dafür, wie die politische Linke überhaupt wirkmächtig sein und Macht aufbauen kann. Als Sozialist:innen wissen wir: Geschichte machen keine großen Männer, sondern die Masse der Menschen selbst, und deshalb kann auch Gesellschaftsveränderung nicht durch talentierte Parlamentarier:innen und rhetorisch ausgefeilte Reden allein erkämpft werden. Aus dem Marxismus lernen wir, dass politische Ideen nicht aus dem Nichts oder der abstrakten Reflexion kommen, sondern sich auf Grundlage der materiellen Lebensrealität entwickeln, und dass die Klasse, die wir vertreten, nämlich das Proletariat, gleichzeitig nichts besitzt und am entscheidenden Machthebel sitzt: Ohne die Arbeiter:innen läuft nichts. Dann, wenn die politische Linke eine relevante Kraft und nicht nur ein Agitations- oder Theoriezirkel war, lag das immer an tiefer Verwurzelung an den Orten, wo unser alltägliches Leben stattfindet: In den Betrieben, in den Schulen, den Universitäten und auch den Nachbarschaften. Insbesondere die betriebliche Verankerung ist entscheidend, da durch die Verankerung in und Unterstützung und Organisation von gewerkschaftlichen Kämpfen wie Streiks für uns ein Machthebel zusätzlich zur parlamentatischen Repräsentation dazukommen würde. Viele erfolgreiche linke Parteien wie bspw. die PTB/PVDA in Belgien bauen auf Betriebsgruppen auf. Leider hat die LINKE gerade kaum Verankerung an diesen Orten, wir sind nicht nur von flächendeckenden Betriebsgruppen weit entfernt, es gibt nicht einmal zwei oder drei Leuchtturmprojekte. Wir müssten also diskutieren: Woran liegt das? Lässt sich das ändern, und wenn ja, wie? Und wenn nein: Was wären Alternativen, um als Partei mehr Kämpfe als nur Wahlkämpfe effektiv zu führen? Leider reden wir gerade über ganz andere Dinge. Besonders prägend ist die Diskussion darum, wer denn unsere „Zielgruppe“ ist und was für „Millieus“ wir wie ansprechen wollen. Natürlich ist es für eine sozialistische Partei wichtig, herauszuarbeiten, wie sie verschiedene Teile des Proletariats mit unterschiedlichen Lebenslagen effektiv organisieren kann. Aber darum geht die Diskussion gar nicht, sie bleibt völlig im Marketing-Slang, statt irgendwas mit Klassenanalyse zu tun zu haben. Um als sozialistische Partei in einem bürgerlichen Staat Handlungsspielräume nutzen zu können und gleichzeitig nicht zur zweiten Sozialdemokratie zu werden, braucht DIE LINKE eine Staatsdebatte, die Grundlagen klärt, anstatt nur über wahltaktische Vor- und Nachteile von Regierungsbeteiligung zu diskutieren. Auf unserem letzten Bundeskongress haben wir als Linksjugend [’solid] beschlossen:

„Der Staat, in dem wir leben, ist nicht klassenneutral. Er ist nicht, wie Sozialdemokrat:innen glauben, der Gegensatz zum Markt, den man stärken muss, sondern selbst unverzichtbarer Teil der kapitalistischen Produktionsweise, in dem er die Eigentumsverhältnisse sichert und die Gesamtinteressen des Kapitals falls notwendig auch gegen Einzelinteressen bestimmter Fraktionen des Kapitals durchsetzt. Der konkrete staatliche Apparat ist durch Lobbyismus, Parteispenden, öffentlich-private Partnerschaften und viele andere Mechanismen mit der Bourgeoisie verbunden. Linke Politik muss also eine kritische Distanz zum aktuellen Staat halten und für eine neue, radikale Demokratie kämpfen, in der die Menschen nicht nur alle vier Jahre wählen, sondern ihre Lebensgeschicke gemeinsam selbst organisieren und bestimmen.“

Aus dieser Analyse folgt nicht automatisch, Regierungsbeteiligung pauschal abzulehnen. Im Sinne eines rebellischen Regierens kann es Sinn machen, Kämpfe um konkrete Reformprojekte auch in Koalitionsverhandlungen und unter Umständen in Form von Regierungsbeteiligung zu führen. Aber für uns als Partei muss klar sein: Auch, wenn wir in der Regierung sind, stehen wir in Opposition zu dem System, in dem wir leben. Nur, weil es eine linke Ministerin gibt, hört der Staat nicht auf, aufs engste mit den Organisationen der herrschenden Klasse verwoben zu sein, das lässt sich nicht so einfach beenden. Es ist mittlerweile weithin Konsens in der Partei, dass wir auch in Zeiten linker Regierungen kämpferische Bewegungen brauchen, die die gesellschaftliche Stimmung nach links treiben. Die Rolle einer sozialistischen Partei dabei kann sich aber nicht darauf beschränken, auch mal auf ne Demo zu gehen und Bewegungen ohne eigene programmatische Perspektive hinterherzulaufen. Stattdessen muss DIE LINKE als kollektiver Organisator Gegenmacht von unten, in den Betrieben, an den Schulen, an der Uni, im Stadtteil und auf dem Dorf aufbauen. Um eine organisierende und gemeinsam kämpfende Partei zu werden, muss DIE LINKE eine lernende Partei werden. In aktuellen Debatten über Strategie und Programmatik redet man aneinander vorbei, es fehlt ein gemeinsamer Begriffsapparat, den man braucht, um die Welt zu verstehen und zu verändern. Es findet in und um DIE LINKE viel wertvolle Bildungsarbeit statt, jedoch als Zusatzangebot, nicht als integraler Teil des Parteilebens, was dazu führt, dass die Teilnehmer:innenzahlen gerade bei theoretischen Angeboten oft im Keller sind. Die Einheit von Theorie und Praxis sollte aber keine traditionsmarxistische Phrase sein, sondern ganz konkret in doppelter Hinsicht praktiziert werden: Statt Bildungsangebote und Entscheidungsfindungs- und Organisationstreffen zu trennen, muss dies zusammengedacht werden. Viele Gruppen der Linksjugend [’solid] arbeiten bspw. mit kurzen inhaltlichen Inputs vor jedem Treffen oder erarbeiten Positionen nicht in Kampfabstimmungen, sondern in Form von Workshops. Gleichzeitig müssen Bildungsangebote immer die Praxis mitdenken: Marx, Luxemburg, Gramsci usw. haben ihre Theorien nicht aus Langeweile entwickelt, sondern, weil sie sich von ihnen einen konkreten Gebrauchswert für sozialistische Politik erhofft haben. Das müssen wir wieder mehr Ernst nehmen. Teil jedes Bildungsangebots muss die Möglichkeit sein, sich darüber auszutauschen, was für Schlussfolgerungen man aus dem Erarbeiteten für die eigene Praxis zieht.

Programmatische Erneuerung

Um eine Praxis zu entwickeln, die ihrem sozialistischen Selbstverständnis gerecht wird, muss DIE LINKE ihre Programmatik schärfen. Es gibt viele spannende und wertvolle Ideen dafür, wie Sozialismus konkret aussehen kann, aber mindestens genauso viel Ratlosigkeit. Ein gemeinsames Verständnis davon, was eine sozialistische Ordnung jenseits von sorgfältig entwickelten Formelkompromissen heißt, fehlt. Deutlicher Ausdruck dessen war das letzte Bundestagswahlprogramm: Es war voll grandioser Reformprojekte, kluger Analysen, guter Schwerpunktsetzung, aber spätestens nach dem Kapitel, in dem jedes dritte Wort „Systemwechsel“ war, ohne auch nur einmal zu erklären, von welchem System zu welchem System man denn überhaupt wechseln will, hatten die Leser:innen ein großes Fragezeichen im Kopf. DIE LINKE erkennt richtigerweise, dass soziale Ungleichheit, Klimakrise und Militarismus nicht zufällige Fehlentscheidungen sind, sondern systemisch vom Kapitalismus verursacht werden. Wir müssen es aber stärker schaffen, diesen Zusammenhang nicht nur zu behaupten, sondern konkret zu machen und Schlussfolgerungen zu ziehen. Was genau am Kapitalismus verursacht die Klimakrise? Ließe sich das Problem durch genossenschaftliche Betriebe vor Ort lösen, oder müssen wir den Marktmechanismus grundlegend abschaffen, um die Klimakrise zu bewältigen? Hier bleibt DIE LINKE Antworten schuldig. Während sich bspw. für uns als Linksjugend [’solid] aus unserer Kapitalismuskritik und der Analyse bspw. der jugoslawischen Erfahrung klar ergibt, dass eine sozialistische Gesellschaft den Marktmechanismus überwinden muss, wenn sie nicht scheitern will, reagierten Teile der Partei geradezu schockiert auf unsere Forderung nach einer demokratischen Planung von Wirtschaft.

Für uns ist klar, dass wir als Sozialist:innen uns gegen jede Form von Unterdrückung und Ausbeutung stellen müssen, unter Verweis auf Marketing-Begriffe wie den „Markenkern“ oder diverse „Zielgruppen“ stand eine solche Politik aber in den letzten Jahren mitunter unter Beschuss. Der Versuch bestimmte Aspekte einer sozialistischen Politik gegen andere auszuspielen, anstatt sie auf Grundlage einer materialistischen Analyse der Welt, in der wir leben, im Zusammenhang zu denken, ist einer sozialistischen Partei unwürdig. Das Debatten, die unsere Strategie nur an Demoskopie, Kompetenzen und Markenkernen ausrichten, problembehaftet sind, zeigt sich auch an Umfragen selbst: So schreibt uns in Umfragen fast niemand Kompetenzen beim Thema Klimakrise zu, und dennoch wählen uns 32% unserer Wähler:innen aus genau diesem Thema. In den Debatten um die „Lifestyle-Linke“ konnten wir beobachten, wie einerseits zentrale Elemente unserer Programmatik unter Beschuss standen, anderseits aber keine wirklichen Antworten auf das reale Phänomen eines progressiven Neoliberalismus gefunden wurden. Statt zu diskutieren, ob wir Klimapolitik, Queerpolitik usw machen, müssen wir diskutieren, wie wir diese machen, denn sozialistische Queerpolitik, Klimapolitik usw muss grundlegend anders aussehen als die der Grünen. Hier haben wir noch Lücken zu füllen. Wir als Linksjugend [’solid] treten dafür ein, im Rahmen eines Erneuerungsprozesses einen programmatischen Klärungsprozess über das Sozialismusverständnis der LINKEN zu führen, also zu klären, wie genau die Gesellschaft, die wir anstreben, aussehen soll.

Kulturelle Erneuerung

Um zu einer lebendigen, erneuerten Mitgliederpartei zu werden, brauchen wir aber neben inhaltlich-strategischen Debatten auch eine kulturelle Erneuerung, einen Bruch mit alten Bündnissen und Strukturen auch im kleinsten Ortsverband. DIE LINKE hat in den letzten Jahren tausende junge Neumitglieder bekommen. Viele fanden zur Linksjugend [’solid] und wurden dort aktiv, viele gingen aber auch einmal zu ihrem Kreisverband und kamen nie wieder. Die Parteistrukturen sind oft wenig offen, unflexibel, schwer verständlich und intransparent. Insbesondere für neue Frauen sowie Menschen, die trans und/oder nicht-binär sind, ist die Parteiarbeit oft abschreckend. Es gibt viele kleine Änderungen der Praxis, die schon Vieles zugänglicher machen würden: Satzungen und Geschätsordnungen jedes Kreisverbands auf der jeweiligen Website gut auffindbar zur Verfügung stellen, anstatt sie zum Geheimwissen zu machen. Vorstellungsrunden am Anfang jedes Ortsverbandstreffens. Verkürzung von Wahlperioden und Antragsfristen auf der lokalen Ebene, um mehr Dynamik und Flexibilität in der Parteileben an der Basis zu bringen. Quoten ernstnehmen, anstatt die Aufhebung von Quotierung zum selbstverständlichen Ritual zu machen.

Es braucht jedoch auch grundlegendere Veränderungen: Wir müssen eine Parteikultur entwickeln, in der inhaltliche Konflikte nicht Vehikel von Kämpfen um Macht und Posten werden. Eine Kultur, in der neue Mitglieder unterschiedliche Positionen verstehen können, anstatt verwirrt zu beobachten, wie Stellvertreterschlachten um Formalia und Posten die inhaltlichen Differenzen verstecken. Wir müssen eine Parteikultur schaffen, in der Beschlüsse auch und insbesondere von den Fraktionen Ernst genommen werden, denn nur so schaffen wir es, gemeinsam schlagkräftig zu werden. Inhaltliche Konflikte werden derzeit größtenteils auf den höheren Funktionärsebenen geführt, für die Basis gibt es kaum Möglichkeiten, sich einzubringen. Große Teile der Partei sind von den Diskussionen um die strategische und programmatische Ausrichtung abgeschnitten. Die Partei bietet für ihre Mitglieder zu wenig politische Analyse und Orientierung im Alltag, die Mitglieder suchen sich dann entweder eigene Orientierungen fern der Partei oder orientieren sich an vereinzelten Netzwerken in der Partei, was eine gemeinsame Politik erschwert. Hier müssen wir besser darin werden, kollektive Orientierungsprozesse anzustoßen.

Für all das braucht es einen Bruch mit Klüngel, Absprachen hinter geschlossenen Türen und alten Netzwerken. DIE LINKE braucht eine Verjüngung, aber nicht einfach eine Verjüngung des Klüngels. Es hilft nichts, wenn junge Gesichter nach vorne gestellt werden, hinter den Kulissen aber die gleichen Strukturen wie vorher dominieren. Und um eine Verjüngung zu erreichen, die nicht nur ein Marketinggag ist, müssen Erfahrungen und Positionen des Jugendverbands Ernst genommen werden, anstatt ihn als Parteikindergarten oder Kaderschmiede für die eigene Strömungspolitik zu begreifen. Um wirklich neue Perspektiven sowie Erfahrungen und Lebenslage junger Menschen in die eigene Politik aufnehmen zu können, braucht es nämlich Menschen aus einer Struktur, in der Jugendliche gemeinsam über all das reflektieren, und nicht einfach Leute, die zufällig etwas jünger sind, aber nur in von älteren Menschen dominierten Strukturen politisch sozialisiert wurden.

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