„Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts passiert und es gibt Wochen, in denen Jahrzehnte passieren“ – dieses Zitat wird Lenin fälschlicherweise zugeschrieben, aber trotz unklaren wahren Ursprungs erinnerten sich viele Linke im Jahr 2022 an diesen Satz. Die Corona-Pandemie ist noch nicht vorbei und wird mittlerweile durch den Ausbruch der Affenpocken ergänzt. Die USA driften mit der Verfolgung von Schwangerschaftsabbrüchen, Drag und jugendlichen trans Menschen in vielen Bundesstaaten in eine immer dystopischere Richtung ab. In Ländern wie Italien und Frankreich setzte sich der rasante Aufstieg faschistoider Kräfte fort.
Besonders prägend war aber die Krise, die durch den brutalen Angriffskrieg des russischen Regimes auf die Ukraine ausgelöst wurde: Einen Krieg dieses Ausmaßes gab es so nah an den Zentren des kapitalistischen Weltsystems lange nicht. Und die Auswirkungen reichen weit über die Ukraine hinaus: Global hat der Krieg große Auswirkungen auf Lieferketten. Durch die Abhängigkeit des deutschen Kapitalismus von billigen fossilen Brennstoffen aus Russland trägt der Krieg mit den damit einhergehenden Sanktionen zu einer sozialen Krise bei, wie wir sie seit Jahrzehnten nicht hatten – befeuert durch die großen Energiekonzerne, die die Krise noch für Extraprofite ausnutzen.
Mit tatkräftiger Unterstützung der Bundesregierung werden nicht die Superreichen und die großen Konzerne für die Kosten der Krise zur Last gezogen, sondern über die Preissteigerungen die einfache Bevölkerung.
Dagegen leisten wir Widerstand:
Wir frieren nicht für die Profite von Shell, RWE und BP. Die Verelendungspolitik der Bundesregierung ist kein Naturgesetz, sondern politisch gewollt und Ausdruck dessen, dass der Staat des Kapitalismus eben kein neutraler gemeinwohlorientierter Akteur ist, sondern das Interesse des Kapitals an immer mehr Profit vertritt.
Und hier hören die Krisen nicht auf:
Die Klimakatastrophe zeigte mit den Überflutungen in Pakistan und den Hitzewellen auch in Europa, wie real die Auswirkungen der für viele nur abstrakt erscheinenden Erderwärmung sind. Und dabei ist diese Krise nicht von den bisher geschilderten Krisen zu trennen. Der fossile Kapitalismus, der seit Jahren Diktaturen wie Russland finanzielle Handlungsfähigkeit und enormen Einfluss brachte, ist die Haupttreibkraft hinter der Klimaerwärmung. Um die selbst verschuldete Abhängigkeit von russischer Energie abzubauen, setzt die Bundesregierung auf die Stärkung einer anderen fossilen Kapitalfraktion, die die Klimakrise weiter vorantreibt: Der Kohleindustrie, insbesondere der in Deutschland starken Braunkohlekonzern. Und dieser Raubbau an der Natur bleibt nicht konsequenzenlos: Viele Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen konnten glaubhaft nachweisen, wie der Raubbau an der Natur und die Klimakatastrophe Pandemien fördern. Die Zerstörung der Regenwälder, die Änderung von Temperaturen und Extremwetterereignisse treiben bisher isolierte Tierarten aus den Urwäldern in die Städte, wo sie Krankheiten auf Menschen übertragen können. Die Massentierhaltung mit ihrer extremen Konzentration sowohl vieler Tiere als auch vieler Menschen auf winzigem Gebiet unter schlechten hygienischen Bedingungen ist nicht weniger als eine Pandemie-Produktions-Industrie.
Die diversen Krisen, unter denen wir gerade leiden, hängen also einerseits kausal miteinander zusammen, da sie alle ihren Ursprung im unterdrückerischen, ausbeuterischen Kapitalismus haben, gleichzeitig intensivieren sie sich aber gegenseitig. Diese Verflochtenheit und die immer schnellere Abfolge von Katastrophen erinnern uns an das, was der französische Marxist Daniel Bensaïd als gebrochene Zeit bezeichnet hat: Die Welt entwickelt sich nicht linear gleichmäßig weiter und es ist nicht entschieden, ob sozialer Fortschritt oder Rückschritt das Ergebnis der vergehenden Zeit ist. Krisen treten selten allein auf und manchmal kann sich innerhalb kurzer Zeit alles ändern. Dieses Verständnis von Zeit erlaubt es überhaupt erst, an die Möglichkeit von Revolutionen zu denken, denn an diesen Brüchen in der Zeit kann sozialistische Organisierung ansetzen.
Die gebrochene Zeit der Politik mit ihren plötzlich auftauchenden Krisen kennt auch plötzlich auftauchende Massenbewegungen: Die Klimabewegung und die Black Lives Matter – Proteste waren in der jüngsten Vergangenheit Beispiele dafür, wie sich innerhalb kurzer Zeit massenhaft Menschen zusammenfinden können, um ihrer Wut über den Status Quo Ausdruck zu verleihen. Ob die Sozialproteste auch so ein Ausmaß annehmen, wird sich zeigen, ist aber nicht unwahrscheinlich.
Diese spontanen Erhebungen haben große Schlagkraft und können viele Menschen politisieren. Sie haben aber die Schwäche, dass ihnen oft die Durchsetzungsperspektive fehlt. Wegen der geringen Kontinuität müssen Bewegungen oft wieder bei Null anfangen und es wiederholen sich immer wieder Fehler vorangegangener Bewegungen.
Hier kommt die Rolle von Organisationen ins Spiel:
Strukturen, die auf langfristiger Mitgliedschaft basieren, sind in der Lage, über die Schwankungen spontaner Mobilisierungen hinaus am langfristigen Wandel der Machtverhältnisse zu arbeiten. Wenn sie es schaffen, nicht als kleine Sekte nur ihr eigenes Süppchen zu kochen, sondern aktiver Teil der Massenkämpfe zu sein – nicht missionierend, sondern ehrlich und offen -, können sie in diesen Bewegungen Erfahrungen sammeln. Diese können sie gemeinsam auf Grundlage linker Gesellschaftsanalyse auswerten, um so zu Erkenntnissen zu kommen, die in den nächsten Bewegungen einen großen Beitrag zur besseren strategischen Ausrichtung leisten können. Die Organisation dient also als revolutionärer Wissensapparat und kann so linke Kämpfe erfolgreicher machen.
Deshalb ist wichtig, dass wir uns aktiv in die Sozialproteste einmischen, anstatt sie bloß von der Seite anzufeuern:
Millionen Menschen sind wütend wegen der schrecklichen sozialen Lage. Es ist unsere Aufgabe als sozialistischer Verband, diese Wut von links aufzugreifen, zu politisieren und für den politischen Kampf gegen die Ampelkoalition zu organisieren. Gerade als Antifaschist:innen ist uns klar, dass diese Unzufriedenheit von Faschist:innen zur Stärkung ihrer politischen Macht genutzt wird und dass Untätigkeit der Linken das weiter vereinfacht. Das beste Mittel gegen eine erstarkende Rechte ist eine starke Linke. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir mit einem klaren linken und solidarischen Programm in die Proteste intervenieren. Vor Ort sind wir teilweise schon an der Organisation von Protesten beteiligt. Darauf wollen wir aufbauen und solche Bestrebungen ausbauen. Als Jugendverband wollen wir insbesondere junge Menschen für die Proteste gewinnen. Da junge Menschen meistens kaum Finanzpolster haben, auf die sie zurückgreifen können, leiden sie besonders unter der Krise.
Unsere Aufgabe ist es dabei, durch führende Beteiligung an den Massenkämpfen und durch politische Bildung, die an den Alltagserfahrungen und dem Vorwissen der Menschen anknüpft, junge Menschen die Erfahrungen und das Wissen sammeln zu lassen, um diese Kämpfe anzuführen. Als überregionaler Verband wollen wir dabei auch einen Beitrag dazu leisten, ein regionsübergreifendes Narrativ und eine Strategie für die Proteste mitzuentwickeln.
Um aber darüber nachzudenken, wie wir diese Rolle wirklich erfüllen können – in diesem, aber auch in anderen Kämpfen –, müssen wir eine realistische Einschätzung des aktuellen Standes der Verbandsentwicklung haben.
Und da müssen wir leider selbstkritisch sein:
Bei uns läuft gerade nicht alles rund. Die uns nahestehende Partei DIE LINKE ist in einer existentiellen Krise und auch wir haben – vor allem durch die Coronapandemie, in der wir viele langjährige Aktive verloren haben und in der gleichzeitig vielen neueren Mitgliedern mangels bundesweiter Präsenzveranstaltungen die Arbeit oberhalb ihrer Basisgruppe nicht attraktiv erschien – derzeit einen großen Mangel an erfahrenen Mitgliedern, die über ihre Basisgruppe hinaus Verantwortung übernehmen.
Dieser Mangel an aktiven Mitgliedern schafft auf allen Ebenen Probleme – und wenn der Großteil der Energie auf den puren Erhalt von Strukturen verwendet werden muss, bleibt wenig Kraft für die strategische Weiterentwicklung der Organisation
In den letzten Jahren ist es uns nicht ausreichend gelungen, unsere Theorie und Praxis in realen Kämpfen zu verankern – auch, weil uns das Bindeglied von Theorie und Praxis, nämlich die Strategie, oft gefehlt hat.
Wir erreichen oft nur die Menschen, die eh schon von selbst links werden. Politische Arbeit, die an den Strukturen ansetzt, die das Leben der Menschen prägen, also betriebliche Arbeit, Arbeit in Berufsfeldern, in Schulen oder in Stadtteilen, nahm einen zu geringen Stellenwert in unserer bisherigen Arbeit ein. Statt, wie es eigentlich immer unser Ansatz war, alle Lebensbereiche zu politisieren, war Linkssein oft eher eine von der Lebensrealität getrennte Freizeitaktivität. Das wollen wir ändern.
Zu diesen Problemen kommt auch unsere finanzielle Lage:
Leider haben wir gerade große Probleme mit der Beitragsehrlichkeit und das ist auch ein politisches Problem: Als Jugendverband haben wir den Anspruch, kritisch aufzutreten, rebellisch gegen die bestehende Ordnung zu sein und auch der uns nahestehenden Partei DIE LINKE mal auf die Füße zu treten, wenn es nötig ist. Diese politische Unabhängigkeit muss aber auch materiell unterfüttert sein: Es ist für uns als sozialistischen Jugendverband keine gute Situation, stark von Geldern des Staats und der Partei DIE LINKE abhängig zu sein. Wenn jedes Mitglied ungefähr den Betrag zahlen würde, der in der Beitragstabelle vorgesehen wäre, wären wir als Verband in einer ganz anderen Lage. Hier müssen wir deshalb die Beitragsehrlichkeit stärken.
Von dieser Selbstkritik sollten wir uns aber nicht entmutigen lassen:
Trotz aller Probleme sind wir immer noch eine der größten linken Strukturen in Deutschland; trotz aller Probleme ermöglichen wir jedes Jahr einer dreistelligen Zahlen von jungen Menschen einen Einstieg in linke Politik; trotz aller Probleme sehen wir, dass sich auch jetzt noch hunderte Menschen im Verband am laufenden Band unbezahlt für eine andere Welt und einen Systemwechsel hin zum Sozialismus einsetzen.
Hier wollen wir ansetzen:
Wir wollen den Menschen, die sich jetzt schon engagieren, ermöglichen, sich schnell auf verschiedenen Ebenen einzubringen und auch das theoretische und strategische Fundament zu erwerben, um auch den alteingesessenen Häsinnen:Hasen selbstbewusst zu widersprechen, wenn sie Unsinn vorschlagen. Dafür wollen wir den dieses Jahr schon begonnenen Ausbau unserer Angebote in der politischen Bildung fortsetzen und dabei weiterhin ein differenziertes Veranstaltungsangebot machen, das sowohl für Neumitglieder als auch für erfahrenere und theoretisch versiertere Mitglieder Möglichkeiten bietet, etwas Neues zu lernen und sich auszutauschen und zu vernetzen. Im Kontext dessen versuchen wir auch, das Sommercamp als regelmäßige Großveranstaltung wiederzubeleben, wenn hier genügend Interesse im Verband herrscht. Weiterhin wollen wir aufgrund des Männerüberhangs in unserer Mitgliedschaft auch Angebote schaffen, die spezifisch Frauen und nicht-binäre Menschen fördern und ihnen ermöglicht, sich mit Theorie auseinanderzusetzen, ohne dabei nervige Theoriemacker ertragen zu müssen. Wichtig ist uns in unserer gesamten Bildungsarbeit, die theoretischen Erkenntnisse mit strategischen Überlegungen und Diskussion über praktische Umsetzbarkeit zu verknüpfen, gleichzeitig aber auch unsere praktischen Aktivitäten strategisch einzuordnen anstatt einfach irgendwas zu machen. Wie Rosa Luxemburg sagt, findet Lernen im Kampf statt.
Wir wollen den im letzten Leitantrag bereits skizzierten Weg hin zu Machtaufbau von unten und die Orientierung auf Selbstorganisation und Interessenspolitik für und durch die Unterdrückten fortsetzen. Eine Schlüsselrolle bei diesem Vorhaben soll unsere Ausbildungskampagne spielen, mit der wir versuchen, unsere betriebliche Verankerung auszubauen. Neben dieser Arbeit wird 2023 auch die Vorbereitung der Europawahl 2024 schon eine Rolle spielen. Mit einer starken Jugendwahlkampagne wollen wir zur Europawahl auch uns selbst einen Strukturtest unterziehen und versuchen, als gesamter Verband auf allen Ebenen zu zeigen, was wir draufhaben.
Im Jahr 2023 liegt viel vor uns – die Notwendigkeit einer starken Linken wird immer deutlicher. Lasst uns das gemeinsam angehen!
Das Ergebnis der Bundestagswahl ist weder Zufall oder reines Produkt der ungünstigen Umstände noch das Resultat handwerklicher Fehler im Wahlkampf, sondern Ausdruck einer generellen Krise der LINKEN, die sich nicht nur in schlechten Wahlergebnissen niederspiegelt. Die Agenda 2010 und die Ära Schröder genererell sind zu weit weg, um noch die gemeinsame Klammer von der LINKEN als anti-neoliberale Sammlungsbewegung zu bilden, und leider erfüllt die LINKE selbst ihren eigenen Anspruch nicht, als sozialistische Partei eine eigenständige Akteurin und mehr als das soziale Gewissen von SPD und Grünen zu sein. Viele Gründe für diese Schwäche zeigten sich kürzlich im Wahlkampf der letzten Bundestagswahl, andere hingegen ziehen sich seit Jahren durch diese Partei. Kern des Problems ist eine grundsätzliche Ungeklärtheit vieler Fragen: Was bedeutet es eine sozialistische Partei zu sein? Und was heißt das neben dem inhaltlichen Anspruch für die Organisation unseres eigenen Parteilebens?
Für uns ist klar: Als Sozialist:innen ist die Partei kein Selbstzweck und nicht einfach nur ein parlamentarischer Player, sondern ein Mittel für die Selbstbefreiung der Unterdrückten. Eine Abgrenzung sozialistischer Politik bspw. zu christlicher Charity-Politik ist von außen kaum erkennbar, und auch intern gibt es wohl kaum Einigkeit. Bei der Bundestagswahl sind uns nur 56% unserer Wähler:innen geblieben, der Rest hat sich vor allem der SPD und den Grünen zugewendet oder ist gar nicht mehr Wählen gegangen. Strategiediskussionen nur an Demoskopie auszurichten, ist keine gute Idee, aber eine Tatsache zeigt die Bundestagswahl doch eindeutig: In Zeiten von Polarisierungen, bei denen die LINKE nicht Teil ist, fallen wir auf unsere Stammwähler:innenschaft von überzeugten Linken zurück, die aber zu klein ist, um uns alleine parlamentarisch am Leben zu halten – was besonders fatal ist, da wir außerhalb des Parlaments gerade in vielen Teilen des Landes kaum Wirkung entfalten. Diese fehlenden Bindung größerer Gruppen von Menschen an die LINKE ist unser entscheidendes Problem, und das wird sich auch nicht verbessern, wenn nicht klar wird, dass wir nicht einfach nur eine bessere SPD sind. Strategien, das „soziale Gewissen“ von irgendwem sein, funktionieren nicht, denn so bindet sich unser Erfolg an den Misserfolg von SPD und Grünen, und wenn diese mal wirklich den Mindestlohn um wenige Euro erhöhen, haben wir nichts mehr zu sagen. Um das zu ändern, wird eine „Rückbesinnung“ auf eine Politik von vor 15 Jahren uns nicht helfen. Ohne eine grundlegende strategische, programmatische und kulturelle Erneuerung werden wir nicht einmal ein erfolgreicher Wahlverein werden, aber erst Recht keine Kraft, die wirklich Gesellschaft verändert.
Hinter der aktuellen Krise der LINKEN verbirgt sich ein Mangel an gemeinsamer Strategie dafür, wie die politische Linke überhaupt wirkmächtig sein und Macht aufbauen kann. Als Sozialist:innen wissen wir: Geschichte machen keine großen Männer, sondern die Masse der Menschen selbst, und deshalb kann auch Gesellschaftsveränderung nicht durch talentierte Parlamentarier:innen und rhetorisch ausgefeilte Reden allein erkämpft werden. Aus dem Marxismus lernen wir, dass politische Ideen nicht aus dem Nichts oder der abstrakten Reflexion kommen, sondern sich auf Grundlage der materiellen Lebensrealität entwickeln, und dass die Klasse, die wir vertreten, nämlich das Proletariat, gleichzeitig nichts besitzt und am entscheidenden Machthebel sitzt: Ohne die Arbeiter:innen läuft nichts. Dann, wenn die politische Linke eine relevante Kraft und nicht nur ein Agitations- oder Theoriezirkel war, lag das immer an tiefer Verwurzelung an den Orten, wo unser alltägliches Leben stattfindet: In den Betrieben, in den Schulen, den Universitäten und auch den Nachbarschaften. Insbesondere die betriebliche Verankerung ist entscheidend, da durch die Verankerung in und Unterstützung und Organisation von gewerkschaftlichen Kämpfen wie Streiks für uns ein Machthebel zusätzlich zur parlamentatischen Repräsentation dazukommen würde. Viele erfolgreiche linke Parteien wie bspw. die PTB/PVDA in Belgien bauen auf Betriebsgruppen auf. Leider hat die LINKE gerade kaum Verankerung an diesen Orten, wir sind nicht nur von flächendeckenden Betriebsgruppen weit entfernt, es gibt nicht einmal zwei oder drei Leuchtturmprojekte. Wir müssten also diskutieren: Woran liegt das? Lässt sich das ändern, und wenn ja, wie? Und wenn nein: Was wären Alternativen, um als Partei mehr Kämpfe als nur Wahlkämpfe effektiv zu führen? Leider reden wir gerade über ganz andere Dinge. Besonders prägend ist die Diskussion darum, wer denn unsere „Zielgruppe“ ist und was für „Millieus“ wir wie ansprechen wollen. Natürlich ist es für eine sozialistische Partei wichtig, herauszuarbeiten, wie sie verschiedene Teile des Proletariats mit unterschiedlichen Lebenslagen effektiv organisieren kann. Aber darum geht die Diskussion gar nicht, sie bleibt völlig im Marketing-Slang, statt irgendwas mit Klassenanalyse zu tun zu haben. Um als sozialistische Partei in einem bürgerlichen Staat Handlungsspielräume nutzen zu können und gleichzeitig nicht zur zweiten Sozialdemokratie zu werden, braucht DIE LINKE eine Staatsdebatte, die Grundlagen klärt, anstatt nur über wahltaktische Vor- und Nachteile von Regierungsbeteiligung zu diskutieren. Auf unserem letzten Bundeskongress haben wir als Linksjugend [’solid] beschlossen:
„Der Staat, in dem wir leben, ist nicht klassenneutral. Er ist nicht, wie Sozialdemokrat:innen glauben, der Gegensatz zum Markt, den man stärken muss, sondern selbst unverzichtbarer Teil der kapitalistischen Produktionsweise, in dem er die Eigentumsverhältnisse sichert und die Gesamtinteressen des Kapitals falls notwendig auch gegen Einzelinteressen bestimmter Fraktionen des Kapitals durchsetzt. Der konkrete staatliche Apparat ist durch Lobbyismus, Parteispenden, öffentlich-private Partnerschaften und viele andere Mechanismen mit der Bourgeoisie verbunden. Linke Politik muss also eine kritische Distanz zum aktuellen Staat halten und für eine neue, radikale Demokratie kämpfen, in der die Menschen nicht nur alle vier Jahre wählen, sondern ihre Lebensgeschicke gemeinsam selbst organisieren und bestimmen.“
Aus dieser Analyse folgt nicht automatisch, Regierungsbeteiligung pauschal abzulehnen. Im Sinne eines rebellischen Regierens kann es Sinn machen, Kämpfe um konkrete Reformprojekte auch in Koalitionsverhandlungen und unter Umständen in Form von Regierungsbeteiligung zu führen. Aber für uns als Partei muss klar sein: Auch, wenn wir in der Regierung sind, stehen wir in Opposition zu dem System, in dem wir leben. Nur, weil es eine linke Ministerin gibt, hört der Staat nicht auf, aufs engste mit den Organisationen der herrschenden Klasse verwoben zu sein, das lässt sich nicht so einfach beenden. Es ist mittlerweile weithin Konsens in der Partei, dass wir auch in Zeiten linker Regierungen kämpferische Bewegungen brauchen, die die gesellschaftliche Stimmung nach links treiben. Die Rolle einer sozialistischen Partei dabei kann sich aber nicht darauf beschränken, auch mal auf ne Demo zu gehen und Bewegungen ohne eigene programmatische Perspektive hinterherzulaufen. Stattdessen muss DIE LINKE als kollektiver Organisator Gegenmacht von unten, in den Betrieben, an den Schulen, an der Uni, im Stadtteil und auf dem Dorf aufbauen. Um eine organisierende und gemeinsam kämpfende Partei zu werden, muss DIE LINKE eine lernende Partei werden. In aktuellen Debatten über Strategie und Programmatik redet man aneinander vorbei, es fehlt ein gemeinsamer Begriffsapparat, den man braucht, um die Welt zu verstehen und zu verändern. Es findet in und um DIE LINKE viel wertvolle Bildungsarbeit statt, jedoch als Zusatzangebot, nicht als integraler Teil des Parteilebens, was dazu führt, dass die Teilnehmer:innenzahlen gerade bei theoretischen Angeboten oft im Keller sind. Die Einheit von Theorie und Praxis sollte aber keine traditionsmarxistische Phrase sein, sondern ganz konkret in doppelter Hinsicht praktiziert werden: Statt Bildungsangebote und Entscheidungsfindungs- und Organisationstreffen zu trennen, muss dies zusammengedacht werden. Viele Gruppen der Linksjugend [’solid] arbeiten bspw. mit kurzen inhaltlichen Inputs vor jedem Treffen oder erarbeiten Positionen nicht in Kampfabstimmungen, sondern in Form von Workshops. Gleichzeitig müssen Bildungsangebote immer die Praxis mitdenken: Marx, Luxemburg, Gramsci usw. haben ihre Theorien nicht aus Langeweile entwickelt, sondern, weil sie sich von ihnen einen konkreten Gebrauchswert für sozialistische Politik erhofft haben. Das müssen wir wieder mehr Ernst nehmen. Teil jedes Bildungsangebots muss die Möglichkeit sein, sich darüber auszutauschen, was für Schlussfolgerungen man aus dem Erarbeiteten für die eigene Praxis zieht.
Um eine Praxis zu entwickeln, die ihrem sozialistischen Selbstverständnis gerecht wird, muss DIE LINKE ihre Programmatik schärfen. Es gibt viele spannende und wertvolle Ideen dafür, wie Sozialismus konkret aussehen kann, aber mindestens genauso viel Ratlosigkeit. Ein gemeinsames Verständnis davon, was eine sozialistische Ordnung jenseits von sorgfältig entwickelten Formelkompromissen heißt, fehlt. Deutlicher Ausdruck dessen war das letzte Bundestagswahlprogramm: Es war voll grandioser Reformprojekte, kluger Analysen, guter Schwerpunktsetzung, aber spätestens nach dem Kapitel, in dem jedes dritte Wort „Systemwechsel“ war, ohne auch nur einmal zu erklären, von welchem System zu welchem System man denn überhaupt wechseln will, hatten die Leser:innen ein großes Fragezeichen im Kopf. DIE LINKE erkennt richtigerweise, dass soziale Ungleichheit, Klimakrise und Militarismus nicht zufällige Fehlentscheidungen sind, sondern systemisch vom Kapitalismus verursacht werden. Wir müssen es aber stärker schaffen, diesen Zusammenhang nicht nur zu behaupten, sondern konkret zu machen und Schlussfolgerungen zu ziehen. Was genau am Kapitalismus verursacht die Klimakrise? Ließe sich das Problem durch genossenschaftliche Betriebe vor Ort lösen, oder müssen wir den Marktmechanismus grundlegend abschaffen, um die Klimakrise zu bewältigen? Hier bleibt DIE LINKE Antworten schuldig. Während sich bspw. für uns als Linksjugend [’solid] aus unserer Kapitalismuskritik und der Analyse bspw. der jugoslawischen Erfahrung klar ergibt, dass eine sozialistische Gesellschaft den Marktmechanismus überwinden muss, wenn sie nicht scheitern will, reagierten Teile der Partei geradezu schockiert auf unsere Forderung nach einer demokratischen Planung von Wirtschaft.
Für uns ist klar, dass wir als Sozialist:innen uns gegen jede Form von Unterdrückung und Ausbeutung stellen müssen, unter Verweis auf Marketing-Begriffe wie den „Markenkern“ oder diverse „Zielgruppen“ stand eine solche Politik aber in den letzten Jahren mitunter unter Beschuss. Der Versuch bestimmte Aspekte einer sozialistischen Politik gegen andere auszuspielen, anstatt sie auf Grundlage einer materialistischen Analyse der Welt, in der wir leben, im Zusammenhang zu denken, ist einer sozialistischen Partei unwürdig. Das Debatten, die unsere Strategie nur an Demoskopie, Kompetenzen und Markenkernen ausrichten, problembehaftet sind, zeigt sich auch an Umfragen selbst: So schreibt uns in Umfragen fast niemand Kompetenzen beim Thema Klimakrise zu, und dennoch wählen uns 32% unserer Wähler:innen aus genau diesem Thema. In den Debatten um die „Lifestyle-Linke“ konnten wir beobachten, wie einerseits zentrale Elemente unserer Programmatik unter Beschuss standen, anderseits aber keine wirklichen Antworten auf das reale Phänomen eines progressiven Neoliberalismus gefunden wurden. Statt zu diskutieren, ob wir Klimapolitik, Queerpolitik usw machen, müssen wir diskutieren, wie wir diese machen, denn sozialistische Queerpolitik, Klimapolitik usw muss grundlegend anders aussehen als die der Grünen. Hier haben wir noch Lücken zu füllen. Wir als Linksjugend [’solid] treten dafür ein, im Rahmen eines Erneuerungsprozesses einen programmatischen Klärungsprozess über das Sozialismusverständnis der LINKEN zu führen, also zu klären, wie genau die Gesellschaft, die wir anstreben, aussehen soll.
Um zu einer lebendigen, erneuerten Mitgliederpartei zu werden, brauchen wir aber neben inhaltlich-strategischen Debatten auch eine kulturelle Erneuerung, einen Bruch mit alten Bündnissen und Strukturen auch im kleinsten Ortsverband. DIE LINKE hat in den letzten Jahren tausende junge Neumitglieder bekommen. Viele fanden zur Linksjugend [’solid] und wurden dort aktiv, viele gingen aber auch einmal zu ihrem Kreisverband und kamen nie wieder. Die Parteistrukturen sind oft wenig offen, unflexibel, schwer verständlich und intransparent. Insbesondere für neue Frauen sowie Menschen, die trans und/oder nicht-binär sind, ist die Parteiarbeit oft abschreckend. Es gibt viele kleine Änderungen der Praxis, die schon Vieles zugänglicher machen würden: Satzungen und Geschätsordnungen jedes Kreisverbands auf der jeweiligen Website gut auffindbar zur Verfügung stellen, anstatt sie zum Geheimwissen zu machen. Vorstellungsrunden am Anfang jedes Ortsverbandstreffens. Verkürzung von Wahlperioden und Antragsfristen auf der lokalen Ebene, um mehr Dynamik und Flexibilität in der Parteileben an der Basis zu bringen. Quoten ernstnehmen, anstatt die Aufhebung von Quotierung zum selbstverständlichen Ritual zu machen.
Es braucht jedoch auch grundlegendere Veränderungen: Wir müssen eine Parteikultur entwickeln, in der inhaltliche Konflikte nicht Vehikel von Kämpfen um Macht und Posten werden. Eine Kultur, in der neue Mitglieder unterschiedliche Positionen verstehen können, anstatt verwirrt zu beobachten, wie Stellvertreterschlachten um Formalia und Posten die inhaltlichen Differenzen verstecken. Wir müssen eine Parteikultur schaffen, in der Beschlüsse auch und insbesondere von den Fraktionen Ernst genommen werden, denn nur so schaffen wir es, gemeinsam schlagkräftig zu werden. Inhaltliche Konflikte werden derzeit größtenteils auf den höheren Funktionärsebenen geführt, für die Basis gibt es kaum Möglichkeiten, sich einzubringen. Große Teile der Partei sind von den Diskussionen um die strategische und programmatische Ausrichtung abgeschnitten. Die Partei bietet für ihre Mitglieder zu wenig politische Analyse und Orientierung im Alltag, die Mitglieder suchen sich dann entweder eigene Orientierungen fern der Partei oder orientieren sich an vereinzelten Netzwerken in der Partei, was eine gemeinsame Politik erschwert. Hier müssen wir besser darin werden, kollektive Orientierungsprozesse anzustoßen.
Für all das braucht es einen Bruch mit Klüngel, Absprachen hinter geschlossenen Türen und alten Netzwerken. DIE LINKE braucht eine Verjüngung, aber nicht einfach eine Verjüngung des Klüngels. Es hilft nichts, wenn junge Gesichter nach vorne gestellt werden, hinter den Kulissen aber die gleichen Strukturen wie vorher dominieren. Und um eine Verjüngung zu erreichen, die nicht nur ein Marketinggag ist, müssen Erfahrungen und Positionen des Jugendverbands Ernst genommen werden, anstatt ihn als Parteikindergarten oder Kaderschmiede für die eigene Strömungspolitik zu begreifen. Um wirklich neue Perspektiven sowie Erfahrungen und Lebenslage junger Menschen in die eigene Politik aufnehmen zu können, braucht es nämlich Menschen aus einer Struktur, in der Jugendliche gemeinsam über all das reflektieren, und nicht einfach Leute, die zufällig etwas jünger sind, aber nur in von älteren Menschen dominierten Strukturen politisch sozialisiert wurden.
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